Gerufen zur Anwaltschaft - Erfahrungen im Einsatz für Jugendliche
„Besondere Sorge für das Wohl der Jugend zu tragen“, versprechen wir in der Profess. Je länger ich in der Jugendarbeit tätig bin, umso mehr bedeutet dieses Gelübde für mich neben dem konkret-praktischen Einsatz für und mit Jugendlichen auch die Aufforderung zur Anwaltschaft für junge Menschen in unserer Gesellschaft und Kirche.
Die „Jugend von heute“ hatte vermutlich schon immer einen schlechten Ruf, und wahrscheinlich war daran auch zu allen Zeiten vieles mehr Vorurteil als Wirklichkeit. Das entschuldigt oder rechtfertigt es aber nicht, diesen schlechten Ruf heute weiterzutragen. Und so möchte ich in dieser parteiischen Haltung der Anwaltschaft auf zwei typische Vorurteile gegen die heutige Jugend eingehen:
Vorurteil 1: „Die Jugend von heute ist nicht mehr politisch.“ Denn: „Sie gehen nicht mehr auf Demos.“ Diese Beobachtung stimmt - stimmte zumindest bis zu "Fridays for future". Aber ist das Fernbleiben von Demonstrationen wirklich ein Beleg für mangelnde Politisierung? Wenn ich bei der gefühlt hundertachzigsten Satzungsdiskussion im BDKJ genervt die Augen verdrehe, ist ja vielleicht wirklich ein jugendlicher Überschwang über das Ziel hinausgeschossen. Aber ich muss zugeben: Hier erlebe ich junge Menschen, die nicht nur wissen, wie Demokratie funktioniert, sondern auch ein großes Vertrauen in ihr Funktionieren haben und Wissen und Erfahrung zu demokratischen Prozessen mitbringen und einüben. Nein, sie demonstrieren nicht – sie formulieren und stellen einen Antrag auf das Verbot der Rekrutierung Minderjähriger für die Bundeswehr, stimmen ihn ab und schicken ihn auf den Weg durch die Instanzen, bis er bei den Entscheidungsträgern der Politik ankommt – nicht ohne viel Zeit in aufwendige Sachrecherche, notwendige Lobbyarbeit, Politiker-Gespräche etc. zu investieren. Schon vor "Fridays for future" stimmten sie ab und verbannten alle Produkte von CocaCola aus ihren Veranstaltungen und Sitzungen, weil sie die Politik des Konzerns für falsch hielten. In vielen kirchlichen Einrichtungen setzen sie den Einkauf von FairTrade durch, und mit ihrem öffentlichen Aufruf zum Boykott von Nestlé-Produkten wollen sie auf die verfehlte Wasserpolitik des Konzerns aufmerksam machen.
Das ist ja schön, aber längst nicht alle Jugendlichen sind so? Stimmt. Aber dieser Einwand kehrt sich gegen uns selbst: Politischer Einsatz in dieser Weise setzt ein Bildungsniveau voraus, zu dem immer mehr junge Menschen in unserem Land keinen Zugang haben. Fehlendes politisches Engagement ist also eine Anfrage an unser Bildungssystem und unsere Bildungsgerechtigkeit! Und: Politischer Einsatz setzt die Erfahrung voraus, etwas bewirken zu können. Die vergangenen Monate haben in trauriger Weise gezeigt, wie wenig die Stimme junger Menschen und ihre Interessen für relevant gehalten werden. In einer der ersten Studien zu den Erfahrungen junger Menschen in der Corona-Krise wird ein Mädchen zum Thema Gehört-Werden in der Krise mit dem Satz zitiert: „Ich habe mich noch nie so ohnmächtig gefühlt.“ Und andere beklagen, dass sie ausschließlich als „zu beschulend“, d.h. als Schüler/innen wahrgenommen werden. Und wie ist es eigentlich möglich, dass 16-Jährigen das verantwortliche Verhalten im Straßenverkehr mit dem Mofa zugetraut wird, aber nicht eine verantwortliche Stimmabgabe bei einer Wahl?
Die „Jugend von heute“ IST politisch – die Frage ist, wie viele Möglichkeiten dazu wir ihnen einräumen…
„Die Jugendlichen wissen ja gar nichts mehr“ – das stimmt für viele, und genau das ist die Chance. Denn sie sind offen und sehr interessiert, wenn man ihnen nicht mit Vorwürfen, sondern ebenso mit Interesse und Offenheit begegnet. Bei meiner ersten Jugendleiter*innenschulung habe ich gelernt, dass auch die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland und dem Stern von Bethlehem nicht mehr vorauszusetzen ist – und danach an zwei Stellen Einheiten unter der Überschrift „Das geheimnisvolle Buch“ durchgeführt. Mit EscapeGame zu den Plagen in Ägypten, Krimidinner zu biblischen Morden und biblischem Kochen haben Jugendliche entdeckt: „Boah, krass, was alles in der Bibel steht!“ – seitdem werden unsere biblischen Materialien deutlich häufiger ausgeliehen und es ist klar: Bibel mit Magdalena ist super! Dann sind auch biblische Impulse, Bibelgespräche, Bibliodrama u.ä. möglich… Ähnliche Erfahrungen habe ich mit anderen „Klassikern“ wie Gebet, Gottesdienst usw. gemacht. Wenn ich mich wirklich auf das Gespräch mit jungen Menschen einlasse, dann kommen irgendwann nach Mitternacht, wenn ich erklärt habe, wie das mit der Keuschheit ist und ob man aus einem Orden auch wieder gehen kann, auch Fragen wie „In der Bibel ist so viel Gewalt, wie kann man mit diesem Buch leben?“ oder „Glaubst du an die Hölle?“, „Warum müssen so viele Menschen leiden, wenn Gott angeblich gut ist?“ usw.
Die „Jugend von heute“ glaubt nicht mehr? Doch, aber sie fragt uns: Be- und verurteilen wir sie anhand alter, äußerer Kriterien von Religiosität oder sehen wir ihren Glauben? Achten wir ihn? Öffnen wir ihnen Räume für ihren Glauben, ihre Ausdrucksformen – und ihre Fragen?
Die „Jugend von heute“ – was auch immer wir an ihr beklagen mögen, ist eine Frage an uns! Denn: Junge Menschen sind nicht „von Natur aus“ so, wie sie sind, sie werden dazu gemacht. Von ihren Familien, von der Gesellschaft – von uns!