Straßenexerzitien
Mein persönlicher Zugang
Erst mal vorweg: Die ignatianischen Exerzitien sind mir in den 50 Jahren meines Ordenslebens immer wichtiger geworden. Sie sind die Quelle, aus der ich am meisten schöpfen darf; der „Ort“, an dem mir alljährlich die intensivsten Begegnungen mit Gott geschenkt wurden und werden. Hier ist mein geistliches Leben ver-ortet und verwurzelt. Diese Zeit ist mir heilig.
Als ich vor einigen Jahren eingeladen wurde, mit einer Gruppe von Jugendlichen an einem Schnupperkurs Straßenexerzitien teilzunehmen, war ich sehr skeptisch. Ein kurzer biblischer Impuls, ein paar Stunden mitten im Großstadtgetümmel unterwegs – das sollten Exerzitien sein? Aus Neugierde und Höflichkeit ging ich mit – und spürte: hier geschieht echte Begegnung, nicht nur mit den Menschen um mich herum, sondern auch mit mir selber. Auch mit Gott?
Meine Neugierde wurde zum Interesse. Ich las Erfahrungsberichte, nahm an einigen einzelnen Exerzitientagen teil, an einem kürzeren und einem 10-tägigen Kurs. Und ich lebte sechs Monate lang in der interreligiösen und interkulturellen damaligen Jesuitenkommunität mit Christian Herwartz SJ in Berlin-Kreuzberg mit, aus der diese Exerzitienform erwachsen ist.
Heute bin ich aus eigenem Erleben überzeugt: Das sind Exerzitien im vollen Sinn. Hier wird für mich sehr konkret, was es heißt: Gott in allen Dingen zu finden (wie der heilige Ignatius es ausdrückt) und alles auf Ihn beziehen (wie unsere Ordensgründerin Mary Ward es gesagt hat). Dabei fasziniert mich auch der enge Zusammenhang zwischen geerdeter, lebendiger Spiritualität und der Option für die Armen. Straßenexerzitien sind so mit der Zeit für mich zu einer Haltung geworden, einem Weg, „im Alltag der Straße Gottes Spuren“ nicht nur zu suchen, wie es in einem Buchtitel (s.u.) heißt, sondern sie zu finden — auch und gerade dort, wo ich sie zunächst nicht vermute.
Was sind / wie verlaufen Straßenexerzitien?
Die Straßenexerzitien werden getragen von Frauen und Männern verschiedener Konfessionen, die bei diesen Exerzitien selbst prägende Erfahrungen gemacht haben. Sie schöpfen dabei aus dem Reichtum biblischer Überlieferung und christlicher Tradition. Teilnehmen können aber alle Menschen, die offen sind für existentielle, geistliche bzw. spirituelle Erfahrungen.
Wer sich zu einem Kurs anmeldet, lässt sich auf einen betont einfachen Lebensstil ein. Die Teilnehmenden wohnen zum Beispiel in ein oder zwei Räumen eines Pfarrzentrums, schlafen auf Isomatten oder einfachen Liegen, Frühstück und Abendessen werden abwechselnd von ihnen selbst vorbereitet. An den Kosten dafür beteiligen sich die Einzelnen nach ihren Möglichkeiten. Weitere Kosten entstehen nicht.
Nach einem kurzen Impuls am Morgen werden die Exerzitanden auf die Straße geschickt. Sie sind eingeladen, offen, achtsam, hörend den Bewegungen der eigenen Sehnsucht zu folgen, sich auf ungewohnte Lebenswelten einzulassen — oft auf Menschen am Rande der Gesellschaft —, Aufmerksamkeit schenkend, ohne Zweckorientierung, einfach da zu sein, auf Augenhöhe. Und sie üben, ins Jetzt zu kommen, die eigenen Erfahrungen wahrzunehmen, sich selbst, den anderen und darin Gott zu begegnen.
Am frühen Abend wird Gottesdienst gefeiert, nicht zwangsläufig in einem Gotteshaus. Bei einem Kurs in Hamburg war das zum Beispiel im Untergeschoss eines Warenhauses, wo Gedenktafeln über die Geschichte des ehemaligen jüdischen Friedhofs Ottensen informieren und Namen von insgesamt 4.500 dort bestatteten Toten nennen. Oder im Aufenthaltsraum des viel besuchten Obdachlosentreffs Alimaus. „Die Ankündigung, in einem Kirchenkeller auf der Reeperbahn zwischen Regalen und einer dort aufbewahrten Jesus-Statue Gottesdienst zu halten, hat bei mir schlagartig Fluchtgedanken ausgelöst, denen ich glücklicherweise nicht nachgegeben habe. Heute würde ich es eine wertvolle Erfahrung nennen, was es heißt: ‚Gott in allen Dingen und an jedem Ort‘“, hat eine Teilnehmerin mir damals gesagt.
Den Abschluss des Tages bildet der Austausch in der Kleingruppe über das, was die Teilnehmenden tagsüber auf der Straße erfahren haben. Oft erschließen sich die Geschehnisse des Tages erst im Gespräch. Die Begleitenden helfen den Exerzitanden, die Bedeutung ihrer oft existentiellen Erfahrungen selbst zu entdecken. Die Gruppe der Übenden wird dabei zu einem begleitenden Resonanzkörper für jeden in ihr.
„Meine Vorstellung von Kirche hat sich in einer befreienden Weise geweitet und die rein institutionelle Lesart hinter sich gelassen. Das was ich dort erleben durfte ist eine lebendige, solidarische, humorvolle, überkonfessionelle und emotionale Kirche, der ich gerne angehöre.“ Eine Erfahrung, die eine Teilnehmerin mir schilderte, die ich aber so oder so ähnlich schon mehrfach gehört habe.
Biblische Leittexte
Die zentrale, geradezu programmatische Stelle aus dem Alten Testament ist die Erzählung von Mose am brennenden Dornbusch (Ex 3). Er geht über die Grenze des Gewohnten hinaus, folgt seiner Neugierde und erfährt: Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. Es ist der Ort, an dem ihm der Gottesname geschenkt wird, an dem er seine Sendung erfährt. Aus dem Neuen Testament bieten sich vor allem die Aussendung der 72 Jünger (Lk 10,1-11), die Fußwaschung (Joh 13,12-15), das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31-46) und die Emmauserzählung (Lk 24,13-35) als Perikopen an, die im Kontext der Straßenexerzitien manchmal überraschend aktuelle und existentielle Bedeutung erlangen.
Weiterführende Literatur
Straßenexerzitien haben sich aus den kleinen Anfängen in der Naunynstraße Berlin im Jahr 1996 zu einer internationalen Bewegung entwickelt. Von den inzwischen zahlreichen Veröffentlichungen möchte ich besonders hinweisen auf
- Christian Herwartz, Auf nackten Sohlen – Exerzitien auf der Straße, Ignatianische Impulse Band 18, Echter Würzburg 2006
- Christian Herwartz, Brennende Gegenwart – Exerzitien auf der Straße, Ignatianische Impulse 51, Echter Würzburg 2011
- Christian Herwartz u.a., Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen, Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen-Vluyn 2016, mit dem Nachwort von Klaus Mertes, das den Zusammenhang mit den „klassischen“ ignatianischen Exerzitien beleuchtet
- Michael Johannes Schindler, Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik, 2016
- sowie auf die Websites strassenexerzitien.de