Zuhören und anpacken: Einsatz im Ahrtal
Die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 können viele Menschen noch immer nicht vergessen. In dieser Nacht brachte die verheerende Flutkatastrophe Leid und Zerstörung in Teile von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Besonders betroffen war - und ist - das Ahrtal. Die Zerstörung war so groß, dass die Aufbauarbeiten noch immer andauern und noch eine lange Zeit weitergehen werden.
Neben der sichtbaren, materiellen Zerstörung gibt es aber auch andere Schäden. Die Flut hat auch in den Menschen Spuren hinterlassen. Seit Anfang Mai ist Sr. Simone Remmert CJ im Ahrtal und hat es sich zur Aufgabe gemacht, für die Menschen in der besonders hart getroffenen Region da zu sein. Sie wird anpacken, wo ihre Hilfe gebraucht wird und ist vor allem auch als Zuhörerin, als Seelsorgerin, vor Ort. "Ich habe deutlich den Ruf Gottes gespürt, dass ich hier gebraucht werde, dass hier der Ort ist, wo ich für Menschen in Not da sein kann und da sein soll", sagt Sr. Simone. Und so hat sie eine kleine Wohnung bezogen und ihren Dienst für die Menschen begonnen.
Hier ist ihr erster Bericht:
"Es regnet. Bindfäden. Eigentlich etwas Schönes. Die Natur braucht es. Es ist Zeit für Dinge im Haus oder eben Briefe schreiben. Eigentlich. Seit ich hier oberhalb des Ahrtals wohne, habe ich bei einem solchen Regen kein gutes Gefühl mehr. Weil viele Menschen unten im Tal sich sorgen, böse Erinnerungen aufsteigen, schmerzhafte Verluste erinnern, ja sogar Panikattacken bekommen, wenn sie nur den Regen hören.
Ich bin seit dem 1. Mai in einer anderen Welt angekommen, so fühlt es sich an. Es gibt ein großes gemeinsames Thema, wem immer ich begegne. Die Flut. Die Katastrophe der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021.
Ich hatte das Glück – ich nenne es besser Fügung – dass ich Mitte März ein passendes Wohnungsangebot bekam und Ende April hier in Grafschaft-Bengen einziehen konnte. Ich machte erste Erkundungsgänge in Ahrweiler, das ich zuletzt Ende Oktober besucht hatte. Es hatte sich viel verbessert, aber die Schäden sind unübersehbar. Und ich spüre, diese leeren oder zugenagelten Fensterhöhlen in Parterre, im ersten oder sogar zweiten Stock tun mir weh. Die Häuser, die es nicht mehr gibt, kann ich nur an den leeren Flächen erkennen. Und es müssen viele sein.
In der zweiten Woche habe ich mich auf Anraten einer hier wohnenden Freundin zur AHRche aufgemacht, einem Verein für Katastrophenhilfe und Wiederaufbau. Er betreibt u.a. in Ahrweiler, direkt an der Ahr, ein Versorgungszelt, eine Beratungsstelle, eine Reparaturwerkstatt und es gibt einen Raum zum Wäschewaschen und -trocknen. Der Verein suchte Unterstützung in der Küche, v.a. im Spülbereich. Ich durfte "Probearbeiten" und blieb. So gehe ich zwei bis drei Mal die Woche für drei bis vier Stunden dorthin und helfe.
Hier komme ich in Kontakt mit Betroffenen, Helfer:innen, fest angestelltem Personal. Es ist gut, einfach da zu sein. Das Thema Flut fließt aus allen heraus, ist allgegenwärtig. Ich höre Geschichten, die unfassbar schrecklich sind. Und immer wieder erzählt werden müssen. Vielleicht, damit sie irgendwann „auserzählt“ sind? Und scheinbar bin ich eine gute Zuhörerin, v.a. eine, die noch unverbraucht ist, nicht persönlich betroffen aber aufnahmefähig. Zum Glück muss ich meistens nichts sagen, sondern nur zuhören – ich wüsste oft nicht, was ich sagen könnte.
Täglich kommen zwischen 60 und 80 Menschen in das Zelt, um gegen eine kleine Gebühr Essen zu bekommen – Betroffene wie Helfende. Es ist eine große Tischgemeinschaft, so kommt es mir vor. Grüppchen treffen sich, reden, lachen, unterstützen sich gegenseitig. Trinken anschließend Kaffee und wenn es Kuchen gibt, freuen sie sich (die Spendenfreudigkeit lässt nach – das ist auch spürbar).
Dann gehe ich mindestens einmal die Woche einfach durch einen Ort: Ahrweiler, Bad Neuenahr, Dernau, Walporzheim. Und schaue. Nehme wahr. Versuche mich in die Menschen, die dort lebten oder dort wieder aufbauen einzufühlen. Ich versuche das Ausmaß zu erspüren, aber das kann mir nicht gelingen. Es ist unermesslich.
Weiter habe ich Kontakt mit Freundinnen vor Ort aufgenommen und lasse mich beraten, wo ich mich noch einsetzen könnte. Auch sie alle von der Flut direkt betroffen. Ich mache langsam. Ich lasse es auf mich zukommen. Ich will nicht übereilt in Aktivitäten verfallen. Weil ich spüre, dass diese Not hier mich sehr beschäftigt, bis in die Träume. Und weil ich hierhergekommen bin, weil ich mich von Gott berufen gefühlt habe, hier zu sein. Und Gott soll auch die Führung an die Orte, zu den Menschen übernehmen, an die ich gehen und die ich treffen soll.
Danke fürs Zuhören oder Lesen.
Sr. Simone"