Zeit des Aufwachens

Provinzoberin Sr. Sabine Adam CJ mit einem politischen Weihnachtsbrief

„Gerade in der Herbheit des
Aufwachens,…
in der Erbärmlichkeit des
Grenzerlebnisses
erreichen den Menschen
die goldenen Fäden,
die in diesen Zeiten
zwischen Himmel und Erde
gehen und der Welt eine
Ahnung von der Fülle
geben, zu der sie
gerufen und fähig ist.“

(Delp, A.; Im Angesicht des Todes,
echter 2007, S. 17)

Diese Zeilen von Alfred Delp, geschrieben in seiner Gefängniszelle, haben mich angesprochen im Blick auf das diesjährige Weihnachtsfest. Mein Eindruck ist, dass die Flüchtlingsströme, die nun nicht mehr nur auf Mittelmeerinseln, sondern direkt vor unseren Haustüren ankommen, ein Aufwachen bewirken. Wir alle sehen seit Jahren die Bilder von Krieg, Vertreibung und Flucht, doch zu einem Aufwachen in dem Sinn, dass auch Taten folgen, hatte es bisher nicht geführt. Das hat sich nun verändert. Europa ist aufgewacht. Wie hellwach es ist, sehen wir an den ganz unterschiedlichen Reaktionen, von Angst, Grenzziehung und Hass bis hin zu einer Haltung des Willkommens und einer so überwältigenden Hilfsbereitschaft, die wohl niemand von uns je erwartet hätte.

Immer wieder in Erinnerung ein Engel

Alfred Delp schreibt weiter: „Und immer kommt mir dabei in die Erinnerung der Engel, den mir vor zwei Jahren zu Advent ein guter Mensch schenkte. Er trug das Spruchband: Freut euch, denn der Herr ist nahe. Den Engel hat die Bombe zerstört. Den guten Menschen hat die Bombe getötet, und ich spüre oft, dass er mir Engelsdienste tut.“ (a.a.O.19) Tun uns die Flüchtlinge vielleicht auch Engelsdienste, indem sie uns eine  Botschaft vermitteln? Sie weisen uns auf eine Wahrheit hin, die wir im Kopf vollkommen klar haben, die aber so schwer im Herzen ankommt. Eine Wahrheit, die Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si beschwört: Unsere Welt ist eine einzige und nur miteinander werden wir in Zukunft im Frieden und menschenwürdig leben können.  „Die dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen, schließt die Sorge ein, die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen, denn wir wissen, dass sich die Dinge ändern können.“ (Laudato si, 13) Manche politischen Schritte der letzten Wochen deuten darauf hin, dass etwas von dieser Wahrheit angekommen ist.

Der von Delp erwähnte Engel trug ein Spruchband: „Freut euch, denn der Herr ist nahe.“ Weihnachten ist das Fest von Gottes persönlicher Nähe. In den Evangelien begegnen uns die Menschen, die sich auf diese Nähe einlassen: Maria und Josef, die Hirten, die Könige… Sie glauben einer Verheißung, die es eigentlich gar nicht geben kann: schwanger werden ohne Mann; ein Messias im Futtertrog. Und sie verhalten sich so, wie es eigentlich gar nicht sein kann: Könige, die vor einer Krippe knien, Hirten, die aufgrund von Engelserscheinungen zu einem Stall rennen.

Sich Gott überlassen

Es ist die Nähe, die persönliche Nähe Gottes, die sie Dinge glauben und tun lässt, die sie nie selbst von sich gedacht hätten. Ein Angerufen sein, das stärker ist als die Vernunft und dennoch nicht unvernünftig ist. „Wenige Menschen ahnen, was Gott aus ihnen machen würde, wenn sie sich ihm ganz überließen.“ (Ign. V. Loyola)

Wir schreiben mit dem, was wir heute in der Welt erleben, Geschichte. Bisherige Lösungsversuche (Verleugnung, Vermeidung) greifen nicht mehr. Wir sind herausgefordert, weiter zu gehen, tiefer zu suchen, mehr zu vertrauen oder, wie Delp sagt: „Dem Wunder zu glauben“. Dies können wir nicht aus eigener Kraft. Es kann aber geschehen, es kann sich ereignen in dem Maß, in dem wir uns einlassen auf das Kind, den menschgewordenen Gott, auf Jesus, der mit uns persönlich unseren Lebensweg gehen will.  
Ich meine, das ist unser wichtigster Beitrag in der Flüchtlingsherausforderung, aber genauso in dem ganz normalen Alltag, in dem wir stehen: dass wir den Glauben an den vertiefen, der alles vermag. Dass wir gelassen bleiben, wenn Gewohntes durcheinander gewirbelt wird, weil wir wissen, dass der Herr immer und in allem sein Leben mit uns teilt.

Ich wünsche uns allen Momente einer ganz persönlichen Begegnung mit dem göttlichen Kind,  Momente von Freude und Dankbarkeit und Augen- Blicke, die es uns möglich machen, uns ihm ein wenig mehr zu überlassen.
Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr 2016!
M. Sabine Adam CJ, Provinzoberin