Was bedeutet das Armutsgelübde für mich - heute?
"Ich gelobe Armut …" Diese drei Worte habe ich feierlich bei meiner ersten Profess, dann bei den jeweiligen Erneuerungen und besonders bewusst bei meiner Profess auf Lebenszeit ausgesprochen. Sie sind Bestandteil unserer Professformel, in der wir uns den drei evangelischen Räten Armut, Keuschheit und Gehorsam als Grundpfeiler des Ordenslebens verpflichten. Meine Erstprofess war vor über 50 Jahren, in einer Zeit ohne die Wunderwerke der heutigen Technik und anderer dynamischer Entwicklungen, die inzwischen den Lebensstil der Menschen beeinflusst haben.
So ist es angebracht, mich fragen zu lassen, was Armut für mich heute bedeutet. Wie lebe ich heute dieses Versprechen konkret? Geht es um einen einmal erworbenen Habitus oder muss ich mich täglich neu darum bemühen? Lebe ich meine Ordensgelübde so, dass ich für andere Menschen glaubwürdig bin?
Zuerst etwas für mich Grundsätzliches: Die "Evangelischen Räte" führen mich auf Jesus zurück, auf sein Leben unter den Menschen, sein Denken, Reden und Handeln, so wie es uns das Neue Testament vermittelt. Jesus hat nicht zu Ordensleuten gesprochen. Seine Lehre und vor allem sein Beispiel durch seine Taten sind an alle Menschen gerichtet gewesen. So sind die evangelischen Ratschläge auch in unserer Zeit an jeden Christen gerichtet. Jeder Christ ist eingeladen, sich am Leben Jesu zu orientieren. Und jeder bewusste Lebensentwurf basiert auf einer Entscheidung – eben zu der Lebensform, zu der Christus ruft.
Wenn ich in den Evangelien auf das Leben Jesu schaue, kann ich sehen, dass er die materielle Armut nicht gesucht, aber sie akzeptiert und gelebt hat. Er schlief auf freiem Feld, nahm aber auch die Gastfreundschaft der Geschwister von Bethanien an. Manchmal lebte er karg, aber er saß, zu einem Mahl eingeladen, sicher nicht vor leerem Teller. Er war völlig frei für seine Sendung, weder an Verwandte, Häuser, Vermögen noch an persönliche Verpflichtungen gebunden. Seine Armut bestand vor allem in der Annahme des Unverständnisses vieler für seine Lehre. Er wurde missverstanden und falsch interpretiert, wegen seiner guten Taten musste er sterben. Seine letzte Armut war das Gefühl der Gott-Verlassenheit am Kreuz.
Diesem Jesus wollte und will ich auch heute noch nachfolgen, weil ich ihn liebe. Er gibt mir alles, was er besitzt und ich möchte ihm alles geben, was ich besitze. In der Ordensprofess habe ich einmal die Verantwortung für diese meine Entscheidung übernommen. Und immer wieder muss ich mich fragen: Was ist das Besondere meiner Berufung als Ordensfrau? Zuallererst geht es in der Nachfolge für mich darum, Mensch für andere zu sein – ein Mensch, der Glauben, Hoffnung und Liebe in der Kirche bekennen will, einfach, konkret, mehr durch Taten als durch Worte.
Eine der Stützen, die mir dafür gegeben sind, ist die freiwillig gewählte Armut. Es ist das komplexeste der drei Gelübde und die Quelle der meisten Missverständnisse. Der wichtigste Grund dafür liegt im Wort selbst. Ist Armut nicht ein Unglück, das man bekämpfen muss? Wir müssen nicht in Entwicklungsländer gehen, um der Armut in vielerlei Form zu begegnen. Gott sei Dank wurden viele Projekte in aller Welt ins Leben gerufen, um sie zu überwinden. Aber ich, bin ich arm? Vielleicht kennen Sie das Sprichwort: "Die Ordensleute versprechen Armut, aber die Menschen draußen in der Welt leben sie." Vielleicht wäre es besser, ehrlich zu sein und das Wort Armut durch Anspruchslosigkeit zu ersetzen.
Dass ich mein Bemühen um Einfachheit und Anspruchslosigkeit in Gemeinschaft leben kann, ist mir eine große Stütze. So können wir gemeinsam solidarisch mit Armen und Ausgegrenzten sein. Gemeinsam können wir ein Gegengewicht setzen gegen das "alles haben zu müssen", "alles bereist zu haben" und "immer mehr und schneller" am Fortschritt teilhaben zu wollen.
Unsere Ordenssatzungen verlangen für ihre Mitglieder einen normalen, aber einfachen Lebensstil. Der fordert von mir die Haltung der Einfachheit, Zufriedenheit und Bescheidenheit. So sollte mein Lebensstandard nicht höher sein als der einer bescheidenen Familie, die für ihren Unterhalt hart arbeiten muss – eine Norm, die sich heute freilich anders darstellt als vor 50 Jahren und die ich deshalb ganz persönlich und in eigener Verantwortung immer neu realisieren muss.
Diese tägliche bewusste Entscheidung für ein einfaches Leben ist jedoch kein Selbstzweck, sondern macht mich frei, für andere da zu sein, mich in Liebe und Mitgefühl den Menschen zuzuwenden, die mich brauchen.
Auch dabei will ich mich an Jesus orientieren: Bevor er Brot vermehrte, war er voll Mitleid für die Menschen, die wie eine Herde ohne Hirten waren.
So heißt für mich "Armut" auch, verfügbar sein, auf egoistischen Gebrauch meiner Zeit zu verzichten und Menschen, die meine Zuwendung brauchen, voll zur Verfügung zu stehen. So gelebte Armut macht mich selber zur Beschenkten, macht glücklich und zufrieden, dankbar und zuversichtlich, dass der Herr sich um mich kümmern wird.
Armut als Anspruchslosigkeit und grundsätzliche Verfügbarkeit muss der Cantus Firmus in meinem Leben sein. Die Melodie darf ich in Kreativität immer wieder neu den Bedürfnissen der Stunde anpassen. So fordert mich beispielsweise die Corona-Pandemie heraus, konkret zu überlegen, wie ich in meinem Umfeld anderen Gelassenheit, Ermutigung, Zuversicht, Hoffnung und Halt schenken kann. Wem kann ich einen Brief schreiben, wen kann ich anrufen, für wen eine kleine Überraschung vorbereiten, ein Päckchen schicken – und für wen will ich besonders beten? Bin ich immer wieder bereit, mich von den Sorgen anderer belasten zu lassen? Dies alles fordert Zeit, die ich teilen und schenken kann.
Keineswegs will ich behaupten, dass mir das alles immer gelingt und so könnte es ein Zeugnis für andere sein, meine Erfahrungen mit ihnen auszutauschen, die guten und die weniger guten, solidarisch mit Menschen, denen auch nicht immer alles glückt. In Demut kann ich zusammen mit anderen annehmen, dass unser Bemühen immer nur Stückwerk bleibt und dass gelingendes Leben zahlreiche Neuanfänge notwendig macht. Und noch etwas ist wichtig und das vielleicht an erster Stelle: Wenn mein Leben in Anspruchslosigkeit und Verfügbarkeit für andere gelingen soll, muss ich es jeden Tag neu dem Herrn hinhalten, Christus bitten, dass mir aus seiner Kraft zukommt, was ich anderen weitergeben will. Immer wieder muss ich mir von ihm sagen lassen: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft wird in deiner Schwachheit mächtig.“
Sr. Gudula Bonell CJ