Vom Umgang mit Schwächen und Stärken der Anderen
"Was bedeutet Ökumene für Sie?“ Die Frage wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion auf dem Katholikentag in Osnabrück 2008 dem inzwischen verstorbenen Karl Lehmann gestellt. Seine Antwort berührt und belehrt mich bis heute: "Ökumene bedeutet nicht, dass man die Schwächen des Anderen nur hinnimmt. Sondern, dass man sich an den Stärken des Anderen freut."
Ich übersetze das inzwischen auf jedes Miteinander und frage mich oft: Läuft das Miteinander im Team, in der Gemeinschaft oder in der Familie gerade gut, weil wir uns immerhin nicht ständig unsere Schwächen an den Kopf werfen? Oder läuft es sehr gut, weil wir uns an unseren Stärken erfreuen?
Teams, die friedlich nebeneinander her arbeiten, haben gute Ausweich-Strategien im Umgang mit
den Schwächen gefunden, so mein Eindruck. Teams, die gerne und innovativ zusammenarbeiten, freuen sich an den gegenseitigen Talenten und nutzen sie.
Am spannendsten wird die Frage für mich in Situationen, in denen ich mich an den Schwächen der Anderen reibe, in denen es viele Konflikte gibt – kann ich mich da trotzdem noch an den Stärken der Anderen freuen? Und da, in dieser Situation, wird es eine Frage nicht an die Gruppe, sondern an mich: Wie sicher und zufrieden bin ich eigentlich gerade mit mir? Sind es wirklich die Schwächen der Anderen, die mich nerven? Oder reibe ich mich gerade an meinen Unzulänglichkeiten? Möchte ich gerade nicht eher aus meiner Haut fahren, als dieses Team oder diese Gemeinschaft zumindest zeitweilig mal zu verlassen?
Und wie geht es mir mit den Stärken der Anderen? Kann ich mich ehrlich und großzügig daran
freuen? Oder bin ich eher neidisch? Mache ich die Anderen klein, weil ich mich selber klein fühle?
In der Bibel lesen wir immer wieder vom Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit – durch die Geschlechter und Geschlechter-Rollen, durch ungleich verteilte Talente und weitere Mühen damit. Und es hat Konsequenzen, wie ich vor allem mit den eigenen Talenten umgehe.
Was mir hilft, wenn ich negativ um mich kreise und damit auch Teams negativ beeinflusse, ist eine
Grundüberzeugung: dass jeder von Gott genau so gebraucht wird, wie er ist. Gott vergeudet keine Talente, Gott setzt seine Vielfalt bei uns gezielt und bewusst ein und freut sich an unseren Stärken. Dem Anderen das konkret zuzugestehen, hilft.
Nach einer schwierigen Zeit in einer Gemeinschaft habe ich vor einigen Jahren versucht, einen Abschluss dazu in Exerzitien zu finden. Ich war in Mannheim in der Jesuitenkirche – einer Kirche mit ganz vielen unterschiedlichen Seitenaltären. Zum Schluss der Exerzitien habe ich mir für jede Mitschwester einen passenden Altar ausgesucht. Und bin dann zu jedem Altar gegangen, habe eine Kerze für die Mitschwester angezündet und mich bei Gott für sie bedankt: "Ich danke dir für diese Mitschwester. Denn so, wie sie ist, erreicht sie Menschen für dich, die ich nicht erreiche, so wie ich bin."
Mir hat dieses Ritual sehr geholfen und ich sage diesen Satz seither immer wieder in verschiedenen Situationen. Vielleicht ist der Alltag mit einer Kollegin, einer Mitschwester, einer Freundin oder einem Familienmitglied gerade schwierig. Aber Gott braucht diesen Menschen genauso wie mich. Und gerade, wenn ich mich an seinen Schwächen reibe, kann ich ihm nur dann fair und gerecht begegnen, wenn ich mir immer wieder seine Stärken vor Augen führe.
Zum Jahresschluss steht wieder eine Zeit mit viel Gemeinschaft bevor – mit viel Freude, aber auch viel zwischenmenschlicher Reibung. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch ein Ritual oder einen Weg finden, den oder die Andere frei zu lassen, ihnen den eigenen Platz und die eigenen Stärken zuzugestehen. Und dass Sie sich so gleichzeitig wieder Luft und Freude für Ihre Stärken verschaffen! Und mal rauszugehen und in einer Kirche eine Kerze für die geliebten nervigen Mitmenschen anzuzünden, ist immer eine gute Idee.
Sr. Birgit Stollhoff CJ