Über Dinosaurier und Traditionen
Wie sind Sie heute Morgen aufgestanden? Was haben Sie in welcher Reihenfolge gemacht? Zuerst Zähne geputzt, geduscht und dann Kaffee getrunken? Oder andersherum? Oder hatten Sie
Geburtstag und es gab wie immer Blumen? Und den Lieblingskuchen? Und wie war das mit Ihrer Erstkommunion? Gab es damals eine Diskussion, ob Sie das machen?
So viele Fragen irritieren. Heute Morgen waren Sie vermutlich nicht irritiert – dafür ist eine Morgen-Routine schließlich da: damit der Alltag reibungslos abläuft. Ein Geburtstag wiederum ist meist mit einem Ritual verbunden, einer bewusst vollzogenen Handlung. Gleichzeitig sind Rituale oft Teil einer Tradition. Ein Ritual aus der christlichen Tradition ist etwa die Erstkommunion. Solche
Rituale werden damit bewusst gefeiert, aber grundsätzlich nicht hinterfragt – es sei denn, die Gesellschaft ändert sich.
Ich finde Routinen und Rituale sehr spannend. Ich arbeite gerne effizient, also versuche, mit wenig
Aufwand viel Ergebnis zu kriegen. Da finde ich Routinen großartig: Wiederholungen, gleiche Abfolgen von Handlungen, die ich unbewusst vollziehe. Ich würde wahnsinnig, wenn ich jeden Morgen überlegen müsste, ob ich jetzt zuerst dusche, dann zum Sport gehe oder davor einen Tee trinke. Morgens will ich nicht denken, sondern mich langsam auf den Tag vorbereiten.
Routinen haben eine wichtige Funktion im Alltag: Sie entlasten.
Barack Obama trug zu Präsidentenzeiten nur blaue und graue Anzüge – weil er viel wichtigere Entscheidungen treffen musste. Mit nur zwei Anzug-Optionen hatte er da morgens den Kopf frei.
Als ich angefangen habe, jeden Morgen Sport zu machen, habe ich mir eine Aufsteh-Anzieh-Losgeh-Routine festgelegt, mit der auch der Sport selbst zur Routine wurde. Ziel der Routine ist: bloß nicht nachdenken! Nie fragen: Will ich zum Sport? Weil die Antwort morgens um sechs Uhr
meist "nein" wäre.
Wie tief Routinen sitzen, habe ich leider gelernt, als ich mein Essverhalten ändern wollte. Routinen
sitzen im ganz alten Teil des Gehirns, den wir mit Dinosauriern gemeinsam haben. Da sitzt das
Reiz-Reaktionsschema, da sitzt das Belohnungsgefühl. Wenn wir versuchen, dem Körper die Schokolade im Stress oder zur Entspannung wegzunehmen, kämpft der Wille im vorderen Säugetier-Teil des Hirns gegen den alteingesessenen Dinosaurier. Und scheitert oft. Da hilft es
nur, alte Routinen gegen neue auszutauschen. Aber es bleibt schwierig, es braucht viel Geduld.
Ähnlich alt wie Routinen, aber gesellschaftlich alt, sind Rituale und damit verbundene Traditionen. Rituale können individuell sein, sie sind oft gemeinschaftlich. Alle Gemeinschaften und Gesellschaften durch alle Zeiten haben Rituale zu ähnlichen Zwecken. Sie sind ein kommunikatives Gruppenereignis und prägen die Identität.
Anders als die Routinen werden sie bewusst vollzogen, haben einen Zweck. Und sind oft sehr einfach und selbsterklärend.
Erstkommunion oder Firmung sind zwei Rituale, die Kindern signalisieren, dass sie erwachsen werden. Die Taufe ist ein Ritual, die Hochzeit und Beerdigung, aber auch Traditionen wie "Brot und Salz" zum Einzug in die neue Wohnung oder die Schultüte zum ersten Schultag. Es gibt neue Rituale – den Gottesdienst zum Abschied in den Ruhestand, das Schloss der Verliebten an Brücken
oder individuell das Löschen eines WhatsApp-Chats, wenn eine Freundschaft zerbrochen ist.
Rituale markieren im kulturellen Einvernehmen eine Veränderung – und sind damit genauso schwierig zu verändern wie Routinen beim Einzelnen. Eine Mitschwester setzt sich in Kenia gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen ein. Wirklich erfolgreich war sie damit erst, als sie verstanden hatte, dass dieses Ritual, so grausam es ist, die Funktion hat, das Erwachsenwerden
der Mädchen zu markieren. Dann konnte sie es zusammen mit dem Stammesoberhaupt durch ein anderes Ritual ersetzen.
Wenn Rituale und Routinen lebensfeindlich sind, sind sie schwere Gegner. Da braucht es viel Mut und viel Überlegung, sie zu ändern, viel Kommunikation, viel Geduld.
Viele Rituale und Routinen aber machen glücklich – im Gehirn und in der Gemeinschaft. Sie erleichtern den Alltag, sie markieren Zeiten am Tag und im Jahr oder in der Biographie. Sie werden von allen verstanden. Rituale verbinden und sind ein Grund zum Feiern. Rituale machen eine Kultur aus, und mit ihrer Hilfe können wir uns gegenseitig bereichern. Vielleicht sind Sie zum Fastenbrechen im Ramadan eingeladen? Auch dieses Ritual wird allmählich Teil unserer Kultur.
Prüfen Sie gerne nochmal Ihren Alltag – sind da gute Ritualeoder auch das eine oder andere störende? Oder gehen Sie zu einer Erstkommunionfeier und erinnern Sie sich an Ihre eigene Erstkommunion. Auch das macht glücklich.
Sr. Birgit Stollhoff CJ
Dieser Text erschien zuerst in der Katholischen Sonntagszeitung. Vielen Dank für die Möglichkeit, ih hier zu übernehmen.