Jesus ruft die Scham vom Baum
Ob die Rolex-Uhr einer SPD-Politikerin oder der Sturz eines korpulenten CDU-Politikers – inzwischen sind die Sozialen Netzwerke der zentrale Ort, an dem oft hämisch auch persönliche Vorlieben und Widerfahrnisse öffentlicher Personen kommentiert werden.
Zu Zachäus Zeiten haben da noch das Getuschel und der ausgestreckte Zeigefinder auf der Straße ausgereicht. Genauso schmerzhaft war es wohl trotzdem. Und so muss es auch für Zachäus gleich mehrfach unangenehm gewesen sein, als Jesus ihn aus dem Versteck im Maulbeerfeigenbaum ruft: Die Leute sehen jetzt, dass er sich für Jesus interessiert und werden das kommentieren. Und natürlich das Gelächter – der kleine verhasste römische Geldeintreiber klettert auf Bäume. Und Jesus selber – kommt jetzt eine Moralpredigt?
"Scham ist ein Augengefühl, das mit dem Blick entsteht, den man auf sich ruhen fühlt." Diese Definition der Theologin Ulrike Wagner-Rau zeigt, wie es Zachäus gehen könnte: Zachäus schämt sich! Bei Scham geht es um Sehen und Gesehen werden, um Beziehung, Interaktion und um die ganze Person.
Warum macht Jesus das? Warum setzt er Zachäus hier den öffentlichen Blicken aus? Jesus ist in diesen Dingen Wiederholungs-"Täter": Ob mit Aussätzigen, Blinden und selbst der blutflüssigen Frau – Jesus holt sich schämende Außenseiter immer wieder in den Blick der Öffentlichkeit. Ist das nicht missbräuchlich? Scham ist ein starkes Machtmittel. Scham kann traumatisieren.
Jesu Verhalten hier mag deshalb richtig sein, weil er in diesen Fällen deutlich macht, dass diese Selbstverurteilung, die auch in der Scham steckt, völlig unberechtigt ist. Weil Jesus die Personen durch sein beispielhaftes Verhalten wieder in der Gesellschaft zurückholen und rehabilitieren will. Dazu gehört, dass Jesus wie bei Zachäus auf jedes Verurteilen konsequent verzichtet. Zunächst erweist er ihm öffentlich seine Zuwendung: Er ist heute Gast bei Zachäus. Ansehen beinhaltet das Gesehen-werden, aber es schützt die Würde der Person. Und auch später im kleinen Kreis bei Zachäus kommt keine Kritik von Jesus, kein "Wäre es nicht mal Zeit, ein besserer Mensch zu werden?". Es ist Zachäus, der sich jetzt die Freiheit nimmt zu sein, wer er immer schon ist – als Zollpächter, als Römer, mit seinen kurzen Beinen: ein guter Mensch.
Öffentlich-machen dient – und auch das sehen wir heute in den Sozialen Medien – auch der Beendigung von Vorurteilen, gar von Missbrauch. Sei es #Metoo oder seien es die vielen Anti-Body-Shaming-Bewegungen: Hier werden auf einer öffentlichen Plattform Tabus gebrochen, die bislang dem Aufrechterhalten von Missbrauch oder falschen Körperidealen dienten. Damit geben sie den Betroffenen Freiheit und Würde zurück.
Jesus zeigt in seinem Verhalten gegenüber Zachäus einen wichtigen Unterschied auf zwischen dem beschämenden Zeigefinger oder dem liebevollen Lichtkegel auf einen Außenseiter – und ist damit aktueller denn je.
Impuls von Sr. Birgit Stollhoff CJ, Übernahme mit freundlicher Genehmigung von www.katholisch.de
Evangelium nach Lukas (Lk 19,1-10)
In jener Zeit kam Jesus nach Jéricho und ging durch die Stadt.
Und siehe, da war ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war reich. Er suchte Jesus, um zu sehen, wer er sei, doch er konnte es nicht wegen der Menschenmenge; denn er war klein von Gestalt.
Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste.
Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus bleiben.
Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf.
Und alle, die das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt.
Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.
Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.
Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.