Wo ist der Nabel der Welt? Armutsexperiment in Rumänien
Wir sollen und wollen an die Ränder gehen, wo die Not groß ist und niemand hingeht, „to the margins“, zu den Marginalisierten aller Art. Mit marginalisierten Menschen und, zumindest für eine kurze Zeit, selbst am Rand zu leben, ist Anliegen des „Armutsexperiments“ im Noviziat. So flog Sr. Britta im August nach Rumänien, um einen Monat lang im Projekt Elijah in der Gemeinschaft mit Roma zu leben. Sie hat einen eindrücklichen Bericht mitgebracht.
In vier Dörfern nördlich von Sibiu haben Georg Sporschill SJ und Ruth Zenkert vor einigen Jahren noch einmal ein neues Projekt begonnen. Das Projekt trägt den Namen Elijah (www.elijah.ro). Hier haben die Straßenkinder nicht einmal mehr nennenswerte Straßen. Die ohnehin sehr wenigen Straßen der kleinen Dörfer sind fast alle nicht geteert. Die Häuser im Dorfzentrum gehören bzw. gehörten oft Siebenbürger Sachsen, die nach 1989 größtenteils nach Deutschland gegangen sind. Einige kommen im Sommer für einige Wochen aus Deutschland, dann fahren sie wieder. Am Dorfrand wohnen die Roma, immer noch, „man“ zieht nicht ins Zentrum. Früher waren sie Bedienstete der Sachsen. Sie leben hier in einfachen Häusern – oder auch nur unter einem notdürftigen Dach, ohne Wände. Das Projekt Elijah baut winterfeste Wände, und immer ein Sozialzentrum, in jedes Dorf. Im Sozialzentrum finden Kinder tagsüber einen geschützten Raum, wo sie spielen können, eine warme Mahlzeit, und Unterstützung für den Besuch von Kindergarten und Schule.
Einige Kinder aus sehr schwierigen Situationen wohnen ganz in einem der über das Dorf Hosman verteilten Häuser von Elijah. Die Gemeinschaft hat viele Standbeine. Auch für Jugendliche gibt es Ausbildung und Arbeit - alles zu erzählen würde hier zu weit führen, auf der Projektwebsite gibt es viele weitere Informationen. Überraschend ist, dass Musik eine sehr große Rolle spielt. Sie verbindet alle. In zwei großen Musikschulen gibt es Instrumental- und Gesangsunterricht und Ensembles. Die Instrumente kommen von Förderern aus Deutschland und Österreich. Die Musik kommt von den Roma. Die Liebe schließlich kommt von Gott.
Das Überraschendste für mich war das Gebet. In einem nicht großen Zimmer (dem alten „Mädchenschlafzimmer“, in dem Ruth in den ersten Anfängen mit den Mädchen wohnte) befindet sich die Kapelle.
Sie ist bei der Messe übervoll mit Kindern, und die Gewänder reichen nicht für die Ministranten. Jeden Morgen vor dem Frühstück versammelt sich die Gemeinschaft hier zum Morgengebet: „Guten Morgen!“ auf ungefähr sieben Sprachen, Kreuzzeichen von den Getauften, ein Psalm, das Evangelium, eine kurze Auslegung, persönlich formulierte Fürbitten, ein Vaterunser und abschließende Gebete, an Anfang und Ende ein ziemlich lebendiges Lied – der Ablauf ist der Struktur nach nicht ungewöhnlich.
Aber durch das Morgengebet führt ein Kind. Kleine Kinder können das. Sie lernen lesen in der Bibel und legen sie für uns aus. In aller Selbstverständlichkeit. Die Zuständigkeit wechselt wochenweise reihum. Wer noch nicht lesen kann, bekommt Lesehilfe von jemandem, der es schon kann. Und ich spüre, dass ich hier in der Schule bin. In einer Bibelschule, die das Leben ergreift und verändert.
„Was ist hier, wovon Kirche und besonders Orden etwas lernen könnten?“ hat Georg Sporschill mich gefragt. Meine Antwort ist: Hier sind Kinder! Die Zukunft. In vielem sind sie wie Kinder in Deutschland. Aber hier warten sie. Oft mit sechs oder zehn Geschwistern, in einem kleinen Raum, ohne Eltern, die sie ernähren oder die ihnen Bildung geben könnten – sie laufen uns entgegen, umarmen uns, wollen von mir malen lernen, schreiben lernen, Deutsch lernen, Geschichten spielen, singen. Von den Kindern lerne ich beten, füreinander beten, sie beten für mich und zeigen mir so, wie sie es machen. Sie warten auf jemanden, der von den Lebensbedingungen her seinen Ort wechseln kann, um zu kommen, mit ihnen die Bibel lesen zu lernen. Der dafür frei ist. Mit ihnen und bei ihnen.
Und sie lehren mich die Bibel lesen – mit meinen Augen, meinen Ohren und mit meinem Leben. Die Bibel mit den Ohren lesen bedeutet, die Auslegung der Kinder zu hören. Und mit dem Leben zu lesen, das schließt die Auslegung mit den Händen ein, zum Beispiel einen Brunnen zu graben, wo keiner ist, und eine Schule zu bauen, einen reichen einladenden Tisch zu decken mit zwei Broten und drei Krautköpfen aus dem Ofen, aus dem Garten. Wie man das organisieren kann, kann man bei Ruth Zenkert erfragen.
Ich komme aus dem Armutsexperiment nicht ausgehungert wieder. Im Gegenteil – mit dem Bedürfnis nach Zeit, viel Aufgenommenes zu verdauen. Auch nicht dreckig. Auch nicht erschöpft. Der Ausdruck „wie neugeboren“ wäre vielleicht ein wenig übertrieben. Aber ganz falsch wäre er nicht. Der liebe Gott ist dort ziemlich jung. Er hat braune Augen, und oft hat er Läuse. Manchmal kommt er aus Verhältnissen, in denen er nicht einmal ein richtiges Zelt hatte. Aber er hat dort Kraft.
Ich habe viel davon aufnehmen dürfen. Es fällt mir nicht leicht, mich wieder abzunabeln und zurückzukehren. Diese kleinen Dörfer an einem der Enden der Erde, am östlichen Rand Europas, haben, gerade an ihren Dorfrändern, viel Zukunft in sich, in der Art eines Vulkans oder einer noch fast nicht erschlossenen heißen Quelle. Ich kann den Gedanken nicht ganz abdrängen: Ist das der Rand? Oder ist der Nabel am Rand?
Ob das ein Armutsexperiment ist, habe ich mich im Verlauf oft gefragt. Die Erkenntnisse, die dabei kamen, trage ich wie einen Schatz mit zurück. Ich hatte viel Anregung, über Armut nachzudenken, und, analog zur Unterscheidung der Geister, über die Unterscheidung der Armuten. Eigentlich würde ich gerne einmal etwas dazu schreiben. Was wir in der Profess versprechen, und was ich während der Wochen immer mehr begriffen habe, ist nicht, was wir hier (oder: dort) bekämpfen, gemeinsam mit den Raben (www.elijah.ro/ueber-uns). Ich war jedenfalls in einer Schule. Einem Intensivkurs. Der Appetit macht auf mehr.
Text und Fotos: Sr. Britta Müller-Schauenburg