Ein anderes Gesicht von Armut: Arm vor Sprachlosigkeit
Armut hat viele Gesichter. Eines davon heißt Sprachlosigkeit. Die Sprachlosigkeit, die entsteht, wenn man an einem Ort und in einem Land lebt, dessen Sprache man nicht spricht. Man kann sich nicht mitteilen, sein Befinden nicht ausdrücken, man kann keine Beziehungen knüpfen. Ohne ausreichende Sprachkenntnisse findet man nur schwer Arbeit, jedenfalls nicht unbedingt in dem Bereich, den man gelernt hat. All dies kann zu Vereinsamung und innerer wie äußerer Verarmung führen, zu Isolation und Ausgrenzung.
Etwas davon erahnen wir in unserer kleinen Kommunität des Europäischen Noviziats in Wien. Keine von uns stammt aus Österreich, sondern wir kommen derzeit aus Deutschland, Rumänien, England und der Slowakei. Während man sich als Deutsche selbstverständlich mit den Menschen der Umgebung verständigen kann (sieht man mal von den Paradeisern, Erdäpfeln, dem Topfen und dem Karfiol ab, den Sesseln, Kästen, Fetzen und Sackerln), müssen wir alle für unser gemeinsames Leben in der Kommunität auf Englisch zurückgreifen, also eine Sprache, die für fast alle von uns nicht die Muttersprache ist. Das geht im Gespräch des Alltags grundsätzlich gut, aber wenn es darum geht, sich über Erlebnisse, Erfahrungen oder gar geistliches Erleben auszutauschen, dann werden rasch die Grenzen sichtbar. Wer gewöhnt ist, sich differenziert auszudrücken, ist plötzlich zurückgeworfen auf einfachen Satzbau und eingeschränktes Vokabular.
Dieses sich nicht mitteilen können, kann sehr schmerzlich sein. Es kann sogar so weit gehen, dass von dem Wesenszug der einzelnen ganz viel auf der Strecke bleibt. Wir können es bei einer Mitschwester erleben, deren sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten mit der Zeit immer reicher werden und bei der dadurch mehr und mehr sichtbar wird, welch köstlichen Humor sie besitzt. Wir erleben dies zunehmend als eine große Bereicherung und einen Schatz, der über viele Monate verborgen war.
Mangelnde Sprachkenntnisse erschweren auch den Zugang auf dem Arbeitsmarkt. Sachlich ist es selbstverständlich gerechtfertigt, für bestimmte berufliche Tätigkeiten auch entsprechende Sprachkenntnisse zu verlangen. Kann man sich jedoch weder beruflich noch ehrenamtlich für etwas engagieren, fallen auch viele Möglichkeiten fort, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Wir sind als Ordensangehörige in der privilegierten Situation, Sprachkurse finanzieren zu können. Kann sich das jemand nicht leisten, kann daraus ein Teufelskreis werden: ohne Sprache keine Arbeit, ohne Arbeit keine Möglichkeit, die Sprache in angemessener Zeit zu erlernen.
Und doch verhilft uns diese Begrenzung der Sprach- und Ausdrucksfähigkeit auch zu neuen und kostbaren Erfahrungen: Wollen wir einander verstehen, und soll es nicht zu unnötigen Missverständnissen kommen, müssen wir ganz genau hinhören, mehrfach nachfragen, und auch mal aushalten, dass etwas anders gelaufen ist als gedacht, weil jemand etwas falsch verstanden hat. Ganz nebenbei erhalten wir so eine Schule in Geduld, Achtsamkeit und Toleranz.
Beim wöchentlichen Austausch über eine Bibelstelle entdecken wir den Reichtum der verschiedensprachigen Übersetzungen. Manchmal eröffnen sich dadurch ganz neue Zugänge zu einer Schriftstelle.
Ein weiteres Geschenk wird uns von unseren Gästen gemacht. Ganz selbstverständlich – und oft mit Freude – wechseln sie zur englischen Sprache, damit alle an einer Unterhaltung teilnehmen können – für uns ein Zeichen der Freundschaft und der Solidarität. Dies macht es übrigens auch den Gästen, die nicht Deutsch als Muttersprache haben, leichter, sich bei uns wohlzufühlen. Das kann so weit gehen, dass wir nach einer Messe mit neun Nationalitäten zusammen um unseren Esstisch versammelt sind. Dann erleben wir, wie Verständigung in einer fremden Sprache gleichzeitig Grenzen überwinden und unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Nation und Kultur zusammenführen kann.
Das ist unter anderem auch eine Vision unseres gemeinsamen Europäischen Noviziats: Wir möchten einander zu einem Dienst befähigen und ausbilden, der uns jenseits unserer Provinz- und Landesgrenzen führen kann, damit wir für Gott und die Menschen dort einsetzbar sind, wo wir je mehr gebraucht werden. Ist dies möglich, dann führt die Armut der Sprachlosigkeit in die Freiheit des Dienstes für andere.
Sr. Johanna Schulenburg CJ