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Eine andere Perspektive einnehmen

Sr. Christa Huber CJ teilt einen Artikel von P. Javier Melloni SJ aus Manresa.

Durch die täglichen Nachrichten gehen meine Gedanken und Gebete u.a. immer wieder nach Spanien zu Menschen, die ich kenne. Auch zum Exerzitienhaus der Jesuiten „Cova Sant Ignasi de Manresa“, wo wir eigentlich für Mai einen Exerzitienkurs geplant haben. Der Jesuit Javier Melloni SJ hat mir einen spannenden Artikel zugeschickt – lesenswerte Gedanken…

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DURCH EIN KOLLEKTIVES BOMBARDEMENT EINGEGRENZT

Eine andere Perspektive einnehmen: erleben wir vielleicht auf kollektive Weise etwas davon, was Ignatius von Loyola passiert ist... – Gedanken von einem Jesuiten aus Manresa zur aktuellen Situation

Javier Melloni SJ

In dieser bedrückenden Situation, die wir erleben, gibt es etwas Neues: Wir können nicht im Singular sprechen, sondern im Plural, weil es uns alle betrifft. Wir stehen vor einem kollektiven Exodus, der uns auf eine neue, beispiellose Weise einander näher bringt. Eine merkwürdige Nähe, weil sie nicht physisch sein kann, und doch fühlen wir uns einander näher als je zuvor: mit unseren Brüdern und Schwestern, mit uns allen, die auf unterschiedliche Weise zusammenarbeiten, mit den Bewohnern unserer Nachbarschaft und unserer Stadt, mit dem Land, mit der Welt, mit den schwierigen Entscheidungen, die die Politiker treffen müssen, mit dem gesamten Gesundheitswesen und mit all den anderen Menschen, deren Dienste wir in unserer so anonymen Gesellschaft als selbstverständlich ansehen und die nun beginnen, ein Gesicht zu bekommen. Wir fühlen uns mehr denn je vereint, und wissen zu schätzen, was wir füreinander tun.

Es drängt sich auf, noch eine andere Perspektive einzunehmen, in der wir erkennen, dass wir vielleicht auf kollektive Weise das erleben, was Ignatius von Loyola passiert ist: eine Kugel hat ihm mitten in der Schlacht von Pamplona das Bein zerschmettert und sein Leben ist zum Stillstand gekommen. Er wurde für etwa neun Monate ans Krankenbett gefesselt. Die ersten Wochen kämpfte er mit Schmerz und Tod, aber dann begann sich in ihm etwas anderes zu öffnen, und von da an wurde ein neuer Mensch geboren. Ist dies nicht die Chance, die uns als Gesellschaft, ja sogar als Zivilisation gegeben wird? Ist es nicht ein Bombardement, das unser unaufhaltsames Karrierestreben jäh unterbrochen hat, der Galopp eines Riesen, den niemand aufhalten konnte? Plötzlich sind wir durch einige kleine Wesen, die wir nicht einmal sehen, bewegungsunfähig geworden, und der große Koloss ist gefallen. Die Welt, die wir für unverwundbar hielten, ist es nicht.

Verwirrt und wie betäubt, mit Schmerzen und auch mit Angst, sind wir “bettlägerig”, jeder in seinem eigenen “Bett” (weil jeder seinen eigenen Prozess durchmachen muss), aber alle im selben Raum, weil diese Niederwerfung uns alle betrifft und uns alle angeht. Wir werden alle Phasen dieses Trancezustandes durchlaufen müssen. Wir können keine davon überspringen, weil das Leben seine Gesetze hat und das Leben ein Lehrer ist. Es kommt von Gott und nichts ist ihm fremd, sondern in allem tut Er sich kund. Auch in dieser Prüfung. Ignatius brauchte seine Zeit, um es zu verstehen. Zuerst musste er mit dem Fieber und den Schmerzen seiner Wunden fertig werden; als diese nachzulassen begannen, suchte er zunächst nach Unterhaltung und wurde schließlich von demjenigen gefunden, der ihn durch diese Wunde suchte. Was er zunächst als eine Niederlage und als Misserfolg erlebte, war seine zweite Geburt. Wie Ignatius können wir zunächst versuchen, uns zu unterhalten, indem wir Ritterbücher lesen, die uns von unserem wahren Kampf ablenken; oder vielleicht haben wir bereits begonnen, solche Texte zu lesen, die uns zu uns selbst zurückbringen, damit wir fähig werden zu hören.

Das Neue an all dem ist, dass es sich nicht um eine individuelle, sondern um eine kollektive und gesamtgesellschaftliche Situation handelt. Jetzt haben wir die Gelegenheit, wirklich zuzuhören und die Zeichen zu erkennen und zu unterscheiden. Aber nicht allein, sondern gemeinsam. Vielleicht ist dies der grundlegende Unterschied zu Ignatius. Wie bei ihm besteht die Herausforderung darin, aus der Zwangseinsperrung in einen frei gewählten Rückzug zu wechseln.

Uns stehen viele Werkzeuge zur Verfügung - einschließlich derer, die uns Ignatius selbst hinterlassen hat -, um diese kollektive Beschränkung in einen gemeinsamen Rückzug zu verwandeln, in eine gemeinsame Übung der Unterscheidung - sozusagen in gemeinsame Exerzitien - und (Wieder-)Bekehrung. Es stehen uns unterschiedliche geistliche Übungsweisen und Möglichkeiten zur Verfügung. Der heilige Ignatius begann sie in seinem Genesungsbett in Loyola zu benennen. Dort lernte er zu unterscheiden, aber erst als er von außen gestoppt wurde, und das war abrupt und hart. Aus eigenem Antrieb hätte er es nicht getan. Auch wir nicht, auch unsere Gesellschaft war nicht freiwillig bereit dazu.

Gesegnet ist unser derzeitiges Eingesperrtsein, wenn es uns dazu dient, ein Licht und eine Erkenntnis zu empfangen, die wir nicht hatten, und gesegnet ist diese Prüfung, wenn sie uns hilft, dies gemeinsam zu entdecken und anzunehmen. Mehr denn je brauchen wir einander. Das Licht des einen ist Licht für alle.

Manresa, 25. März 2020

Quelle: Javier Melloni SJ, Newsletter-facebook Cova Sant Ignasi (Manresa), 25 March 2020
Übertragen aus dem Spanischen: Veronica Fuhrmann CJ
Kontakt: Christa Huber CJ