Konzept
Eigene Geschichte ist zugleich Ort blinder Flecken und Ort des Lernens. Eigene Geschichte enthält nicht nur Tatsachen, sondern auch Hoffnungen, Enttäuschungen, Wunden und Narben.
Diese Herausforderung betrifft jeden Menschen als einzelne Person, aber auch Gemeinschaften bzw. Institutionen. Für Glaubensgemeinschaften gibt es Narrative (Erzählstrukturen), die Identität latent oder offen fundamentalistisch grundlegen. Wer seine Geschichte alleine - ohne das Korrektiv des anderen Blicks - erzählen möchte, ist immer in der Gefahr, nicht nur einäugig, sondern blind zu sein. Wer umgekehrt sich das Erzählen seiner eigenen Geschichte ganz aus der Hand nehmen lässt, d.h. es vollständig an "andere" delegiert, und so das eigene Gespür des unverwechselbaren Weges und Rufes Gottes ausblendet, gibt das größte Geschenk preis, das er als Geschöpf erhalten hat und für andere sein kann: eine Person. Deshalb ist das Ineinander der fremden und der eigenen Perspektive, das jeder Zusammenarbeit innewohnt, beim Erzählen der eigenen Geschichte das zentrale Methodenproblem.
Rechtstexte und heilige Texte (Heilige Schrift) haben eine lange Tradition der Kommentarkultur zugleich "erfahren" und hervorgebracht. In den Handschriften ist es ganz äußerlich zu sehen: Ein Text wird durch Kommentare, die drumherum, drüber oder in separate Bücher geschrieben werden, ergänzt, reflektiert, unterstrichen, eingeschränkt und eingeordnet und so "tradiert" als Text im Gebrauch, als im Leben angewendeter Text. Der Talmud, Grundtext rabbinischer Gelehrsamkeit, zeigt das wie kaum ein anderes Buch. Die sich widersprechenden Kommentare bleiben stehen als vielstimmiger neuer Haupttext, den der Exeget, der Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden hat, situativ auslegt. Aber auch für diese Auslegung gilt die Vielstimmigkeit als Qualitätsmerkmal. Einstimmigkeit ist verdächtig. Freiheit und freie Suche nach Wahrheit ist im Menschlichen normalerweise vielstimmig. Diese "talmudische Struktur" steht dem Projekt EMMAUS als Leitbild voran.
Widerspruch und Differenz tun vor allem weh, wo sie nicht auf Kraft, sondern auf Überforderung, Not und bedrohtes Sein treffen. Deshalb ist gerade dann, wenn die Frage nach Identität virulent wird, ihre Bearbeitung mit großen Schwierigkeiten behaftet. Die Probleme der Geschichte, mit der "ich" stehe oder falle, handhaben zu lernen, ist Teil jeder geschichtswissenschaftlichen Ausbildung (Stichworte: Siegergeschichte, Hofgeschichtsschreibung, Hagiographie). Das Aufflammen von Fundamentalismen in wirtschaftlich bedrohten, bildungsschwachen sozialen Kontexten, die der Überforderung mit einem Wunsch nach Vereinfachung und dazu passenden Herrschaftsformen begegnen und die im Stimmengewirr nicht anders können als nach Verstärkern der eigenen Stimme zu rufen, zeigt die überindividuelle, gesellschaftliche Bedeutung dieser Methoden. Um nur ein bedeutendes Beispiel zu nennen: Die Verfahren von Transitional Justice, die nach extremer Gewaltgeschichte (Bürgerkrieg, Diktatur u.a.) an den Ruinen einer Identitätserzählung ansetzen, mühen sich an dieser sozialen Bedeutung.
Haltungen und Methodenkompetenzen sind also besonders hilfreich und ausgleichend, wo Kraft nicht einfach reichlich vorhanden ist. Und das ist ein Normalfall. Die Congregatio Jesu sieht im Projekt EMMAUS die Fellows als Gestalten dessen, der auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24) hinzutritt. Die Geschichte des Ordens und das Geschichteverstehen überhaupt möchte sie in dieser Perspektive studieren. Das geschieht im "Gespräch auf dem Gang" unterwegs zur Kaffeemaschine, in der Tischgemeinschaft des wöchentlichen "Projektabends" und in unregelmäßigen internen und öffentlichen Workshops. Textlektüre und Textdiskussion sind Teil des Programms.
Das Projekt ist interdisziplinär. Die klassischen Autoren der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, allen voran der Philosophie (Augustinus von Hippo, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Hannah Arendt, Hartmut Rosa u.a.) werden ebenso ins Gespräch gebracht mit Autoren anderer Fächer wie die anwesenden Personen.